Zeitzeugengespräch zum Polizeieinsatz am Bauzaun des AKW Grohnde am 19.03.1977.

07.04.2017 | Kategorien: PoliZeitGeschichten
Der Förderkreis für Polizeigeschichte Niedersachsen e.V. möchte Ihnen an dieser Stelle die Möglichkeit bieten, Ihren eigenen Beitrag zur niedersächsischen Polizeigeschichte einzubringen. Hier stellen wir Ihnen eine Plattform zur Verfügung, Ihre Erfahrung und Ihr Wissen in die Öffentlichkeit zu bringen. Machen Sie mit und senden Sie uns Ihren Artikel an info@polizeigeschichte-niedersachsen.de !

Die Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden hat sich mit den Ausstellungen „Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS Staat“ und „Von der Polizeiassistentin zur Führungskraft“ in den letzten Jahren intensiv mit polizeirelevanten Geschichtsthemen auseinandergesetzt. Anlässlich des Jahrestages des Polizeieinsatzes vor 40 Jahren am Bauzaun des AKW Grohnde am 19. März 1977 hatte nun der Leiter der Polizeiinspektion, Ralf Leopold gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten Uwe Lührig zu einer außerordentlichen Führungskräftebesprechung eingeladen.

Mit der Moderation von Dr. Götting vom Polizeimuseum der Polizeiakademie Niedersachsen haben verschiedene Führungskräfte der Inspektion, aktuelle Verantwortungsträger der Kommunalverwaltung und eine Reihe polizeiliche Zeitzeugen Ihre persönlichen Erfahrungen aus dem damaligen Einsatz ausgetauscht. Der zur Einführung gezeigte Tages-schaubeitrag von 1977 weckt beim Polizeipräsidenten der PD Göttingen ganz persönliche Erinnerungen. Er habe ihn damals zu Hause gemeinsam mit seinen Eltern gesehen, sagte Herr Lührig. Die Bilder der Gewalt gegen Polizeibeamte, die mit Eisenstangen geschlagen und mit Metallschrauben durch Zwillen beschossen wurden, hätten seine feste Überzeugung noch verstärkt, dass es sich lohne, sich als Teil der Polizei für diesen Staat und seine Ge-sellschaftsordnung einzusetzen. (Nachrichtenmeldung siehe: https://www.youtube.com/watch?v=-SSIX6w4IhA)

Michael Stricker, Polizeibeamter aus Berlin, erläuterte in gut 30 Minuten den Verlauf des Einsatztages, wie er sich ihm aus der Auswertung von Unterlagen und Dokumenten der Archive und Zeitungsberichten, aber auch durch Zeitzeugengesprächen erschlossen hat. Eine chronologische Aufarbeitung hat er in einem Buch zusammengestellt, das in der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V. erschienen ist und über deren Vorsitzenden bezogen werden kann (Link zur Homepage).

Der spannende Einführungsvortrag endete mit der Einschätzung, dass „die Reiter den Konflikt für die Polizei entschieden haben“.

 

1. Zeitzeugenaussage: Volker Dowidat, damals eingesetzt als Angehöriger der Bereitschaftspolizei unmittelbar auf dem Baugelände am Zaun.

„Die Menschen waren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hochpolitisiert. Es war die Zeit des Deutschen Herbstes, die Zeit von Roter Armee. Während der Terror Deutschland überzog, sei es in der Bereitschaftspolizei Braunschweig sehr ruhig gewesen. Routineeinsätze wie Walddurchsuchungen oder so genannte Verpflegungseinsätze als Reservekräfte bestimmten den Tagesablauf. Zwar wurde in der Ausbildung auch das Formieren einer Polizeikette mit Schutzschild geübt, doch mit dem Ziel, Demonstrationsteilnehmer mit sanfter Gewalt abzudrängen. Die Ausstattung bestand aus einem Halbschalenhelm, einem kurzen Schlagstock und einem runden Kunststoffschild aus Plexiglas. An den Füßen trugen wir in der Bereitschaftspolizei Gummistiefel. Wenn die Einsatzhundertschaft damit loslief, dann hat man ein deutliches Schlurfen gehört. Letztlich waren wir aber auf das, was dann in Grohnde geschah, nicht vorbereitet. In der Erinnerung höre ich immer noch einen unglaublichen Lärm durch die Pumpen der Wasserwerfer, die auf Voll-Last liefen und durch das Rumgeschreie der Demonstranten. Den Einsatz der Polizeireiter habe ich noch immer bildlich vor Augen. Für viel Unruhe unter den Einsatzkräften haben noch eine ganze Zeit Gerüchte über einen von einer Krampe getroffenen und getöteten Kollegen gesorgt. Die haben sich aber zum Glück nicht bewahrheitet.“

2. Zeitzeugenaussage: Joachim Ulber, damals eingesetzt als Angehöriger der 21. Einsatzhundertschaft der Bezirksregierung Hannover, eigentlich Streifenpolizist der Autobahnpolizeistation Hannover Ahlem.

„Eingesetzt war ich als Räumkraft vor dem Bauzaun zusammen mit der Reiterstaffel. Ich bin zwar in keine unmittelbaren körperlichen Auseinandersetzungen geraten, aber Fracksausen hatte ich trotzdem. Wir wussten, dass es viele verletzte Kollegen gegeben hat. Wir haben den eingerissenen Zaun gesehen, die Feuerlöscher und die total erschöpften Kollegen. Die konnten teilweise gar nicht mehr kriechen und hatten einen Ölfilm über Helm und Gesicht. In Erinnerung ist mir auch die Sorge um meine Frau geblieben, die ich in Ungewissheit über meine Lage lassen musste, denn Handys gab es noch nicht. Auf der Rückfahrt habe ich dann in einem Dorf an der Telefonzelle angehalten und ich konnte ihr kurz mitteilen, dass ich heil geblieben bin.“

3. Zeitzeugenaussage: Otto Knocke, damals Führer der Abteilung Anton.

„Meine unterstellten Einsatzeinheiten waren dafür zuständig, die Sperren auf den Zuwegungen zum Bauplatz zu sichern. Aus meiner heutigen Sicht war wir auf der Einsatz unzureichend vorbereitet. Mir unterstanden vier Einsatzhundertschaften und ein 30-köpfiger Führungsstab. Erfahrungen mit der Stabsarbeit haben wir nicht gehabt. An den Sperrungen der Zufahrtwege war nur ein Personendurchgang geplant gewesen. Problematisch war, dass sich der Demonstrationszug vor der Sperre absolut komprimiert hatte. Ein Schlagstockeinsatz wäre nutzlos gewesen, die Leute hätten ja nicht zurückgekonnt. Wir mussten die Sperre aufgeben. Unser Lkw, der die Straße einengen sollte, wurde dann einfach von den Demonstranten weggezogen. Als die Auseinandersetzungen am Zaun begannen liefen wir was das Zeug hält zum Zentrum des Einsatzes, um die anderen Kräfte zu entlasten. Wir kamen an, als gerade die Reiterschlacht im vollen Gange war. Ich muss sagen, dass ich in Grohnde einen Teil meines Humors verloren habe und das für immer. Es war ein sehr prägendes negatives Ereignis!“

4. Zeitzeugenaussage Heinrich Frockenbrock, damals Leiter Außendienst im Polizeikommissariat Hameln zuständig für die Verkehrslenkungsmaßnahmen / Verkehrsregelung der Anfahrt der Demonstrationsteilnehmer im Stadtgebiete Hameln.

„Bei der Demonstration ist mir schon bei der Anfahrt der auswärtigen Teilnehmer ein so hohes Potential an Aggression begegnet, auf das ich nicht eingestellt war. Auch mit den Menschenmassen habe ich so nicht gerechnet.

Diese Erlebnisse sind auch für mich weiter prägend gewesen. Der Begriff „Schlacht“ aber kommt mir nur schwer von den Lippen. Die Begrifflichkeit ist von der Presse benutzt worden. Wir als Hamelner Polizisten waren gefragt, als z.B. ein Lkw mit Teilen eines Baukranes durch die Anti-Atomdorfbewohner mit schlichter Hebelkraft auf der Straße vor dem Bauplatz abgeladen wurde.“

5. Zeitzeugenaussagen Andreas Schiefer, damals Einsatzreferent im Nds. Innenministerium

„Das nimmt niemand ein! So hatte es die Baufirma der Polizei mitgeteilt und meinte damit die Sicherheit des Zaunes. Niemand konnte sich vorstellen oder hatte es auch nur für möglich gehalten, dass der Zaun eingerissen werden könnte. Den Einsatzablauf hat wahrscheinlich auch die Einsatzleitlinie des damaligen Ministerpräsidenten Albrecht bestimmt, der angeordnet hatte, dass der Rechtsbruch auf Seiten der Störer offensichtlich werden sollte. Die auswärtigen Gruppen aus Göttingen, Bielefeld, der Kornstraße aus Hannover hatten ein enormes Gewaltpotential. Es genügten wenige Leute, um eine große Demo umzufunktionieren. Die Initiativübernahme des Einsatzleiters am Objekt, Herrmann aus der Bereitschaftspolizei, war dringend notwendig gewesen. Wenn es die nicht gegeben hätte, wären die Folgen unabsehbar gewesen.

Ich habe damals die Verletzten im Krankenhaus besucht. Lange haben einige an den Folgen zu tragen gehabt. Ein Hundertschaftsführer aus NRW, dessen Ersatzkräfte lediglich mit Lederjacke und Halbschuhen ausgestattet waren, hat es gleich zu Einsatzbeginn durch einen Steinwurf den Kiefer zerschmettert.“

6. Zeitzeugenaussage. Hans-Günter Sonntag, damals Ermittlungsführer der Kriminalpolizeilichen Ermittlungen rund um die Straftaten im Zusammenhang mit dem späteren Anti-Atomdorf Grohnde.

„Rund 150 Taten hat es durch die Bewohner des Anti-Atomdorfes gegeben. Überwiegend Diebstähle. Grundsätzlich waren die Leute aber nicht aggressiv. Ermittlungen im Anti-Atomdorf selber haben wir aber nicht vorgenommen. Es gab die Anweisung, das Gelände möglichst nicht zu betreten. Besonders in Erinnerung sind mir die Gerichtsverhandlungen geblieben. Hinten im Zuschauerraum das Gejohle von den Sympathisanten und die Staatsanwaltschaft hatte sich kaum gerührt, die wirkte völlig eingeschüchtert. Aussagen durften die Polizeibeamten nur im Rahmen ihrer Aussagegenehmigungen machen. Als Schwindler und Lügner sind sie bezeichnet worden. Ziel der Rechtsanwälte damals war, die Zeugen unglaubwürdig zu machen.“

7. Zeitzeugenaussage, Gerhard Freutel, damals Leiter des Polizeiabschnittes Hameln und zuständig für die Sicherheit in der Stadt Hameln.

„Während der Grohnde Demonstration war es in der Stadt Hameln ruhig geblieben. In der Zeit danach ist es auch zum Schlagstockeinsatz gekommen, wenn es u.a. zur Abwehr von Angriffen auf Fahrzeugtransporte zum Baugelände erforderlich war. Die Leute im späteren Anti-Atomdorf waren nicht mehr so gewalttätig, wie die Störer am 19. März. Wir haben untereinander mehr „Katz und Maus“ gespielt.“

8. Zeitzeugenaussage: Thomas Knaack, damals Angehöriger der Autobahnpolizei Hannover, eingesetzt als Kradfahrer beim Einsatz der Räumung des Anti-Atomdorfes Grohnde.

„Ich war mit einem Reserve-/Fahrschulkraftrad eingesetzt, das in Grohnde aufgrund einer technischen Störung am Straßenrand liegenblieb. Völlig isoliert von den anderen Polizeikräften geriet ich so in den Abzug der das geräumte Anti-Atomdorf verlassenden Bewohner. Ich hatte wirklich Angst und glaubte, die werfen mich gleich in die Weser. Aber bis auf verbale Pöbeleien durch die vorbeiziehenden Leute ist nichts Schlimmes passiert. Doch das war beileibe kein harmloses Klientel.“

9. Zuhörerrückmeldung Andreas Grossmann, heute Bürgermeister der Gemeinde Emmerthal

„Ich war auch 19 Jahre alt und bin ziviler Zeitzeuge. Wir mussten damals eine Deutschklausur schreiben, sonst wäre ich sicherlich zu der Demonstration gegangen. Ich war regelmäßiger Demonstrationsteilnehmer. Lange Haare und Bart, aber immer friedlich!

Zu der Zeit hat sich ein Feindbild gegen die Polizei aufgebaut. Die linken Gruppen haben das entsprechend genutzt. Wir haben immer nur gehofft, nicht dazwischen zu geraten.

Die Ereignisse aber, wie sie heute aus Ihrer Sicht geschildert wurden zu sehen, das war für mich neu. Hochspannend.“

10. Zuhörerrückmeldung Tjark Bartels, heute Landrat des Landkreises Hameln-Pyrmont

„Ich habe großen Respekt für das, was geschildet und erlebt wurde und begrüßte im besonderen Maße die Aufklärungsarbeit, die heute von allen Seiten dazu erfolgt.

Der Staat hat teilweise arrogant agiert und nicht wahrgenommen, welche Bewegung sich zusammenbraut. In diesem Gemisch waren die Polizisten keine Menschen mehr, sondern Feinde, beinahe entmenschlicht. Das ist furchtbar, Hass und Unverständnis haben noch lange Jahre angehalten. Wir können es jetzt nur besser machen.“

11. Zuhörerrückmeldung Michael Haunschild, heute Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Polizeigeschichte e.V.

„Das Zeitzeugengespräch heute zeigt, wie wichtig es ist, dass auch die persönlichen Erinnerungen erhalten und dokumentiert werden. Wir alle wissen, wie schnell so etwas in Vergessenheit gerät, daher ist es unabdingbar, dass diese Erinnerungsschätze festgehalten werden.“

12. Resümee am Ende von Dr. Dirk Götting

„Der Protest gegen die kommerzielle Nutzung der Atomenergie wurde durch starke soziale und politische Gruppen in unserer Gesellschaft getragen, die eine eigene Erinnerungskultur entwickelt haben. Die Polizei spielt darin bisher nur den Part des Gegenübers, des Gegners, der nicht selten Gewalt angewendet hat. Diese Sichtweise ist einseitig und wird der Funktion und Rolle von Polizei in einer demokratischen Gesellschaft nicht gerecht.

Die heutigen Berichte belegen beeindruckend, wie Polizeibeamten diesen Einsatz zum Teil bis heute als Trauma erleben. Wenn sich die Polizei paramilitärischen Aktionen ausgesetzt sieht, dann kommt sie als Sicherheits- und Ordnungsorgan einer Zivilgesellschaft an ihre Grenzen.“

13. Schlusswort Ralf Leopold

„Für die heutige Polizeiführung unserer Polizeiinspektion waren die Zeitzeugenschilderungen sehr aufschlussreich. Eine solche Art der Einsatznachbereitung hat es wohl auch in Niedersachsen bisher noch nicht gegeben.

Es ist gut, dass die Polizei heute zum Glück einen viel größeren Rückhalt in der Bevölkerung hat als in den 1970er Jahren. Auch die Politik hat dazugelernt. Und das hängt auch mit einer vollständig veränderten und aktiveren Öffentlichkeitsarbeit wie aber auch einer verbesserten Kommunikation untereinander zusammen.“

Danksagung

Der Förderkreis für Polizeigeschichte Niedersachsen e. V. hat die Veranstaltung tatkräftig unterstützt und vor allem durch den Kontakt zu den Zeitzeugen überhaupt erst möglich gemacht.

Wer sich aktiv an der Auseinandersetzung mit Polizeigeschichte in Niedersachsen beteiligen möchte, der findet weiter Informationen unter: http://www.polizeigeschichte-niedersachsen.de

Ein großes Dankeschön gilt dem Kollegen Michael Stricker, der als Berliner Polizeibeamter einen wichtigen Beitrag für unsere niedersächsische Polizeigeschichte geleistet hat.

Hintergrundinformation

Außerhalb der Polizei arbeitet die lokale Anti-Atom-Bewegung an einem Geschichtsprojekt zur Erinnerung/ Aufarbeitung der Demonstration am 19. März 1977. Unter dem Titel „40 Jahre – Schlacht um Grohnde“ wird vom 17. März bis 07. April 2017 im Münster Hameln eine Ausstellung gezeigt, die durch den Hamelner Historiker Bernhard Gelderblom erarbeitet und begleitet wird. Die Ausstellung wird später auch an anderen Orten, u.a. in Bielefeld und Göttingen zu sehen sein (Veranstaltungsmeldungen: http://grohnde.gelderblom-hameln.de/ )

Artikeloptionen:

drucken